Die Mobilität wird sich in den kommenden Jahrzehnten verändern. Dies ist unerlässlich, damit die Wende hin zu einer klimafreundlichen Fortbewegung gelingt. Der Verkehrssektor ist laut des ökologischen Verkehrsclubs Deutschland (VCD) für ein Fünftel der Treibhausgasemissionen verantwortlich – und davon entstehen wiederum 90 Prozent auf den Straßen durch Autos und Lkw. Das Bemerkenswerte ist dabei: »Im Gegensatz zu anderen Sektoren sind die Emissionen des Verkehrs seit den 1990er-Jahren praktisch nicht gesunken«, konstatiert der VCD. Daher ist eine Neugestaltung der Mobilität eine der Hauptaufgaben. Eine Lösung liegt direkt vor der Haustür – mit dem Fokus auf vernetzte Mobilität.
»Wir alle wissen: Die Verkehrswende ist ein Mammutprojekt, das wir nur gemeinsam stemmen können – und müssen, wenn wir eine lebenswerte Zukunft haben wollen. Der Schlüssel dafür liegt im unmittelbaren Lebensraum der Menschen: im Wohnquartier. Denn wenn es direkt vor der Haustür gute Alternativen zum eigenen Auto gibt, können Menschen frei wählen, wie sie mobil sein wollen – und eine klimafreundliche Wahl treffen«, betonte Thomas J. Mager, VCD-Bundesvorstand, anlässlich der vor Kurzem veröffentlichten Charta für »Intelligente Mobilität im Wohnquartier«.
Vernetzte Mobilität – Beispiele aus Bremen
Wie diese intelligente Mobilität aussehen kann, lässt sich aktuell in Bremen beobachten. In der Hansestadt entstehen gerade zahlreiche neue Quartiere auf ehemaligen Gewerbe- und Industriearealen – mit innovativen und klimafreundlichen Mobilitätskonzepten. Beispiele sind neben dem Kornquartier und dem noch in der Planung befindlichen Hachez-Quartier in der Bremer Neustadt die Überseeinsel im Bremer Westen sowie das Tabakquartier in Woltmershausen. In diesem Artikel werfen wir auf die Projekte links und rechts der Weser einen genaueren Blick.
Auf 15 Hektar entsteht auf der Überseeinsel derzeit ein fast kompletter Stadtteil auf dem ehemaligen Kellogg-Areal. »Dort entwickeln wir eines der größten neuen Quartiere in Bremen – und zwar mit einem klaren Statement: Innerhalb der Quartiersgrenzen wird es keine Autos geben«, betont Klaus Meier. Er ist Geschäftsführer der Überseeinsel GmbH, die die Baumaßnahmen auf dem Gelände koordiniert. Ausgangspunkt der Quartiersentwicklung war laut Meier die Frage: »Wie wollen wir wohnen?«
Einer der wichtigen Aspekte bei der Beantwortung sei ganz klar die Mobilität. Und in diesem Zusammenhang die Fragen: Wie komme ich in meine Wohnung, in die Stadt und zur Arbeit – und wie bewege ich mich im Quartier fort? »Wir glauben, dass die Qualität des Wohnens enorm steigt, wenn es keine motorisierte Mobilität im Quartier gibt.« Mit dieser Idee seien sie nicht allein. »Autofreie Quartiere sind vielfach gewünscht, aber immer noch selten die Realität in Bremen, aber auch über die Stadtgrenzen hinaus.« Mit der Entwicklung und Umsetzung von neuen Quartieren habe man aber nun die Möglichkeit, neue, autofreie beziehungsweise autoarme Areale für Wohnen, Arbeiten und Freizeit zu entwickeln.
Was ist auf der Überseeinsel geplant?
»Bei uns kommen auf den 15 Hektar keine Autos hinein, Ausnahmen gelten für Rettungsdienste und die Stadtreinigung. Unter den Wohngebäuden gibt es auch keine Tiefgaragen für Autos, sondern nur für Fahrräder «, erläutert Meier. Pkw würden aber nicht komplett ausgeschlossen, sondern finden Platz am Rand des Areals in Quartiersgaragen (»Autospeicher«). Alle Parkmöglichkeiten würden dann wiederum mit einer Infrastruktur ausgestattet, die es zum Beispiel leicht macht, auf den letzten Metern zur Wohnung auf das Auto zu verzichten. Zu dieser Infrastruktur gehören etwa Lasten- und Leihräder – und als Clou später, geplant ab 2028, autonome Elektro-Shuttles. Diese würden dann auf der gesamten Länge des Quartiers, rund zwei Kilometer, pendeln. Ergänzt werden soll die Infrastruktur auch durch eine zentrale Paketstation. Alternativen zum Auto sinnvoll vernetzen
»Ein solches autofreies Quartier funktioniert aber nur, wenn es gute Alternativen gibt – und diese müssen sinnvoll vernetzt werden«, betont der Geschäftsführer der Überseeinsel GmbH. »Auf der Überseeinsel können wir dabei auf die Gunst der Lage bauen«, so Meier. Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) liege mit den Linien 3 und 5 quasi vor der Haustür. »Und wir hoffen natürlich, dass die Überseeinsel mit Blick zum Beispiel auf den ÖPNV noch weiter erschlossen wird. Zudem sollen Brücken für Fußgänger:innen und Fahrradfahrer: innen die Überseeinsel perspektivisch mit dem Europahafen auf der einen Seite und Woltmershausen auf der anderen vernetzen.
Wertvolle Erfahrungen aus dem Tabakquartier
Im Tabakquartier in Woltmershausen zeigt sich, dass das Konzept »Vernetzte Mobilität« funktioniert. Dort sind bereits Büros bezogen, es gibt Gastronomie- und Hotelangebote sowie Kultur- und Sporteinrichtungen. Und der Wohnungsbau hat begonnen. Was es innerhalb des Quartiers so gut wie nicht gibt: Autos. »Wir haben uns bei der Planung sehr früh Gedanken über das Mobilitätskonzept gemacht«, erzählt Marcel Linnemann, Geschäftsführer des verantwortlichen Bremer Immobilienunternehmens Justus Grosse. »Wir wollten den Verkehr so weit es geht aus dem Quartier heraushalten.« Das gelinge mit den Mobilitätshäusern, die an die Peripherien gesetzt werden. Zwei seien bereits in Betrieb, ein drittes folgt. »Sie sammeln die Autos – und dann kann es zu Fuß, mit dem Rad oder E-Roller weitergehen«, so Linnemann.
»Wir merken bereits jetzt, wie hoch die Aufenthaltsqualität im autofreien Innenbereich des Quartiers ist.« Wie bei der Überseeinsel stimmen auch auf dem Areal der ehemaligen Zigarettenfabrik die grundlegenden Rahmenbedingungen für eine mobile Vernetzung innerhalb des Areals und auch nach außen: Für Letzteres sind zum Beispiel die Nähe zur Innenstadt, vorhandene ÖPNV-Anbindungen sowie Radwege entscheidend. »Wir stellen fest, dass bei potenziellen neuen Mietern die erste Frage oft die nach der Verkehrsanbindung ist«, berichtet Linnemann.
Vernetzte Mobilität – Busse fahren Tabakquartier jetzt direkt an
(Vernetzte) Mobilität spiele also eine ganz entscheidende Rolle bei der Quartiersentwicklung – eine zentrale Komponente sei dabei der ÖPNV. Denn insbesondere in Städten ist ein Umdenken festzustellen – weg vom eigenen Auto. Einige Hundert Meter entfernt vom Tabakquartier gab es anfangs lediglich zwei Bushaltestellen. Südlich verläuft die Linie 63 und nördlich fährt die Linie 24. Eine direkte Buslinienführung entlang der Hermann-Ritter-Straße fehlte aber. Ziel war es, die Busse näher anzubinden »Darüber waren wir im Austausch mit der Bremer Straßenbahn AG«, so Linnemann. Seit dem April 2023 fährt nun in den Hauptverkehrszeiten jeder zweite Bus der Linie 63 ab der Haltestelle Westerstraße via Hohentorsplatz, Bahnhof Neustadt, Simon-Bolivar-Straße, Hermann-Ritter-Straße und Am Tabakquartier weiter in Richtung GVZ. Vier neue Haltestellen liegen im Bereich des Tabakquartiers.
Doch es müsse auch darüber hinaus vernetzt gedacht werden. Denn viele würden für die letzten Meter zum Ziel vom ÖPNV zum Beispiel auf Bike-Sharing und E-Roller umsteigen, die an Haltestellen zur Verfügung stehen sollten.
Die mobile Vernetzung ist dabei aber nur ein Puzzleteil in den neuen Quartieren. Das ist schon jetzt im Tabakquartier zu erleben. »Auch die Menschen vernetzen sich. Das sehen wir gerade am Beispiel der ersten Mieter:innen von Unternehmen, Kultur- und Freizeiteinrichtungen«, berichtet Marcel Linnemann von den ersten Erfahrungen. Er betont: »All diese neuen Verbindungen von den Bewohner:innen und Nutzer:innen bis zur Mobilität sind letztlich ein enormer Multiplikator für die Attraktivität des Quartiers. Sie geben ihm eine eigene Identität, steigern die Lebensqualität
und sind ein Beitrag für den Klimaschutz.«
Wissenschaftliche Betrachtung: Was bringen neue Mobilitätskonzepte?
Im April 2021 veröffentlichte die Innovationsberatung team red Deutschland GmbH eine Studie zur »Evaluation von Mobilitätsmaßnahmen im Rahmen des Bremer Stellplatzortsgesetzes«. Ziel war es, die Wirksamkeit von bereits umgesetzten Mobilitätskonzepten zu untersuchen. Befragt wurden dafür unter anderem Bewohner:innen, die in Gebieten mit bereits umgesetzten Mobilitätskonzepten leben, sowie Bauherr:innen. Der Anteil von Pkw-freien Haushalten in diesen Gebieten ist im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich höher. Zudem ist im Vergleich zur Kontrollgruppe das Mobilitätsverhalten deutlich umweltfreundlicher: Sie fahren häufiger mit dem ÖPNV sowie mit dem Fahrrad und seltener mit dem Auto. Das sind letztlich die Bausteine der Verkehrswende, die laut VCD ein Dreiklang aus vermeiden, verlagern und verbessern ist. Das betrifft dabei nicht nur den Autoverkehr, sondern gilt generell auch für den Güterverkehr. Beide sollen möglichst vermieden werden. Geht dies nicht, sollen Fahrten auf umweltschonende Fortbewegungsmittel verlagert werden – und nicht zuletzt durch neue Technologien und eine sinnvolle Vernetzung verbessert werden.